Jean Merlin Ellerstadter mit Vergangenheit

von Michael G. Wiel

„Nationale Enge war ihm fremd. Die Nachricht von seinem Tode musste in drei Erdteilen verschickt werden, so groß war die Zahl seiner Freunde.“ So titelt die Rheinpfalz am 5. Oktober 1979[1] den Bericht über die Beerdigung von Jean Merlin auf dem Ellerstadter Friedhof. Viele Gäste aus dem Ausland begleiteten Jean Merlin auf seinem letzten Weg. Wer war Jean Merlin? Vielen Ellerstadtern war der liebenswürdige Mann, zu dem der Blaumann und seine Baskenmütze unzertrennlich gehörten, eine vertraute Erscheinung. Mir, der erst Mitte 1979 nach Ellerstadt kam, war er nur einmal aufgefallen. Als wir, meine Frau und ich, einen Spaziergang durch unseren neuen Wohnort machten, stand er in der Ratstraße am Hoftor seines Hauses. Blaumann, Baskenmütze und freundlich. Jahrzehnte später, nach dem Tode seiner Ehefrau im Jahre 2019, rief mich Walburga Mühlpfordt an. Sie habe diverse Unterlagen und Erinnerungsstücke an Jean Merlin. Ob die Ortsgeschichte Ellerstadt e. V. Interesse daran habe. Ich sagte  „Ja“. An diesem Tag begannen meine Nachforschungen nach der Geschichte von Jean Merlin und sind bis heute noch nicht beendet. Mit diesem Artikel will ich den derzeitigen Stand der Nachforschungen dokumentieren.

Jean Merlin wurde am 19.09.1897 in St. Just-Challessin geboren. Sein Geburtsort liegt im Departement Isère. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für Frankreich und erlitt 1918 eine schwere Gasvergiftung[2]. In einem Fernstudium erwarb er 1931 sein Diplom als Industriedesigner[3]. Er war in der französischen Arbeiterbewegung aktiv. Im Oktober 1941 übernahm er das Kommando des Resistance-Netzwerkes Chelles-Lagny[4]. Am 6. Februar 1943 wurde durch diese Gruppe ein Zug mit Deutschen Soldaten überfallen. Jean Merlin wurde mit drei seiner Männer verhaftet. Am 23.06.1943 wurde die Gruppe vom Pariser Sondergericht zu Haftstrafen zwischen 18 Monaten und 3 Jahren verurteilt[5]. Am 21.11.1943 erfolgte ein erfolgloser Fluchtversuch aus dem Gefängnis in Melun[6]. Aufgrund des Fluchtversuches erfolgte am 15.05.1944 die Einlieferung ins KZ Buchenwald durch den Befehlshaber der Sicherheitspolizei Paris (SS Standartenführer Helmut Knochen) als politischer Gefangener[7]. Zwischen Mai 1944 und April 1945 ist der Aufenthalt in div. Außenlagern (Dora, Ellrich[8], Günzrode). Danach bis 15.04.1945 „Aufenthalt“ in Bergen-Belsen[9]. Bis 1946 (Terminierung nicht möglich) war Jean Merlin in einem Erholungslager in Belgien. 1946 hielt sich Jean Merlin bei Paris auf. Er arbeitet dort als Mechaniker bei amerikanischen Quäkern[10].

Ab 1947 arbeitete Jean Merlin mit amerikanischen Quäkern in Ludwigshafen[11]. Dort lernte er seine spätere Frau kennen[12]. Am 30.12.1953 erfolgte in Ludwigshafen die Heirat[13]. Bis 1964 lebte das Ehepaar in Frankreich. Danach zog das Ehepaar zum Bruder von Frau Merlin nach Ellerstadt. Hier betrieb der Schwager von Jean Merlin, Jakob Schilling, eine Autoreparaturwerkstatt.

Im Jahre 1974 wurden Jean Merlin durch den französischen Präsidenten folgende Orden verliehen:„Croix de Guerre 39 – 45 avec Palme“ und „Medaille Militaire Valeur et Disciplin“[14].

Im Artikel vom 5.10.1979 schreibt die Rheinpfalz weiter: „In Jean Merlins Leben war ein Stück jenes Europas verwirklicht, das aus dem Geist der Humanität lebt, den dieser einfache Arbeiter im vertrauten Umgang mit den französischen und seinem Lieblingsschriftsteller Romain Rolland tief in sich aufgenommen hatte. Als französischer Patriot wurde er vielfach dekoriert. Aber nationale Enge war ihm fremd.“ Diese Passage wird auch durch folgenden Textauszug aus den Aufzeichnungen von Frau Mühlpfordt (aus einem Gespräch mit Elise Merlin) belegt: „Ich lernte Jean als Mitarbeiter beim dem Hilfswerk der Quäker in Ludwigshafen kennen. Ich selbst war dort von 1946 -1952 in der Küche tätig (als Angestellte der Stadt Ludwigshafen). Die Baracken der Hilfsaktion waren übrigens von Schweden aufgebaut worden, denn Ludwigshafen war ja total zerstört. Jean und ich kamen uns näher. Wir sprachen miteinander auf Englisch. Ich fragte ihn, warum er ausgerechnet in Deutschland, das ihm so viel angetan hat, zum Hilfseinsatz kommt. Er hat geantwortet, er wolle die Deutschen kennenlernen, wenn kein Krieg ist.“[15]

Wie bereits erwähnt, die Recherchen gehen weiter. Ich möchte mich aber bereits jetzt bei Frau Walburga Mühlpfordt bedanken. Ohne sie wären die Recherchen nie begonnen worden. Ebenso bei Friedhelm Hafner. Er hat ein Großteil der bei uns eingelagerten Bücher, Orden, Urkunden, Briefe und Bilder für die Nachwelt gesichert. Dank auch an Günter Lauer für seine Recherchen beim Suchdienst in Arolsen.

Bildteil

Häflingskarte KZ Buchenwald (Quelle: Suchdienst Arolsen)

Häftlingsjacke Jean Merlin Häftling Nr. 49967

(Nachlass Elise Merlin / Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e. V.)

                                                      Jean Merlin (1950)                                                                                                                                                            

Quäkerbaracke Ludwigshafen (ca. 1948)

 

       Aufzeichnungen zum Fernstudium in Geometrie(1935)

                Jean Merlin (links) mit seinem Schwager Jakob Schilling (undatiert, ca. Mitte der 60er Jahre

Grabmal der Eheleute Merlin und des Bruders/Schwagers Jakob Schilling auf dem Ellerstadter Friedhof

(Fotos: Michael G. Wiel / Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e. V.)

Quellennachweis

[1] Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e. V.

[2] Rheinpfalz vom 5.10.1979

[3] Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e. V.

[4] R.-C-Plancke „La Seine-et Marne 1939 – 1945“ Band 3 Kapitel VI

[5] R.-C-Plancke „La Seine-et Marne 1939 – 1945“ Band 3 Kapitel VI

[6] R.-C-Plancke „La Seine-et Marne 1939 – 1945“ Band 3 Kapitel VI

[7] Kopie Häftlings-Personal-Karte KZ Buchenwald Quelle: Suchdienst Arolsen), Archiv Ortsgeschichte

Ellerstadt e. V.

[8] Kopie Überstellungsunterlagen v. 06.06.1944(Quelle: Suchdienst Arolsen) Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e. V.

[9] Undatierter Zeitungsartikel (verm. Sud-Quest France) über die Befreiung von Bergen-Belsen mit handschriftl.

Vermerk von Jean Merlin „Ich war dabei“

[10] Fotos aus dem Nachlass von Frau Elise Merlin

[11] Frau Walburga Mühlpfordt aus Gesprächen mit Elise Merlin / Rheinpfalz vom 5.10.1979

[12] Frau Walburga Mühlpfordt aus Gesprächen mit Elise Merlin

[13] Heiratsurkunde 926/1953 Standesamt Ludwigshafen / Rhein Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e.V.

[14] Verleihungsurkunden und Orden aus dem Nachlass von Elise Merlin / Archiv Ortsgeschichte Ellerstadt e. V.

[15] Frau Walburga Mühlpfordt aus Gesprächen mit Elise Merlin